Aufruf zum gemeinsamen Gebet für Erweckung, von Hanspeter Nüesch

Aufruf zum gemeinsamen Gebet für Erweckung, von Hanspeter Nüesch

Aufruf zum gemeinsamen Gebet für Erweckung, von Hanspeter Nüesch

© jcomp

„In den letzten Wochen habe ich immer wieder live oder online über glaubensvolles Gebet und Erweckung/Erneuerung gelehrt oder gepredigt. Diese Themen sind für mich nicht neu, ganz im Gegenteil, hatte ich doch schon vor nun 40 Jahren bei der Aktion Neues Leben mit dem Gebetsseminar und der Tonbildschau „Wirkungen des Gebets in der Vergangenheit“ auf den engen Zusammenhang von Gebet und Erweckung am Beispiel des Geistesaufbruchs rund um den Chrischonaprediger Markus Hauser im Aargauer Wynental und den Erweckungen in Wales und Korea aufzuzeigen versucht. Und immer wieder hat Gott mich während den gut 30 Jahren, in denen ich Campus für Christus leitete, ermutigt an der Vision der Erweckung als eigentlichem Ziel all unserer Dienste im In- und Ausland inkl der Explo-Konferenzen festzuhalten.

Versöhnung und Einheit als Voraussetzung zu erhörlichem Gebet

Seit ich nach einer tiefen Busserfahrung 1972 eine tiefgreifende Begegnung mit dem Heiligen Geist hatte und eine kleine Erweckung in unserer Sprachschule in England erlebte, hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Anhand des Studiums mancher Erweckungen der Vergangenheit ging ich der Frage nach, was eine Erweckung auszeichnet und was der menschliche Beitrag dabei ist. Im Umfeld des Schreibens meines Buches über das Vermächtnis von Ruth und Billy Graham beschäftigte ich mich mit der Frage, wie das Verhältnis von Evangelisation und Erweckung ist. Dazu studierte ich die Schriften von J. Edwin Orr, des Erweckungshistorikers schlechthin. Ein Resultat davon war neben der Schrift über Johannes Winzeler, meinen Urahn und Gründer mehrerer Gemeinden, das Magazin „Erweckung – Merkmale und Voraussetzungen“, das insbesondere die Erweckungen in Wales und den schottischen Hebriden zum Thema hat. (Das reichbebilderte Magazin kann solange Vorrat bei mir bezogen werden. Auch habe ich auf einer A4-Seite die wichtigsten Punkte zusammengefasst und maile die Kurzfassung auf Wunsch gerne zu.) Beim Studium der Erweckungsgeschichte wurde mir bewusst, dass Einheit und Versöhnung eine Voraussetzung für erhörliches Gebet ist. Eindrücklich hatten wir den Wert des versöhnten Miteianders bei den zwei vergangenen Christustagen in unserem Land erlebt, bei denen ich in Absprache mit den kirchlichen Trägerorganisatoren die Programmverantwortung trug. Mit den Fahnenträger-Betern für alle damals 2786 politischen Gemeinden der Schweiz ging für mich und für viele andere am Christustag 2004 in Basel ein langjähriger Traum in Erfüllung. Das ist sicher mit ein Grund warum ich mich seither engagiere, dass in vielen Ländern der Welt sich die Christen die Hand reichen, um in versöhnter Einheit Christustage zu veranstalten, indem sie die biblische Verheissung von 2. Chronik 7, 14 ernstnehmen: „Wenn mein Volk, über das mein Name genannt wird, sich demütigt und betet, mein Angesicht sucht und von seinen bösen Wegen umkehrt, dann will ich vom Himmel her hören, ihre Sünde vergeben und ihre Land heilen.“ Wenn man den vorangehenden Vers liest, der von Trockenheit, Heuschreckenschwärmen und Krankheitsseuchen spricht, dann wird deutlich, wie aktuell diese Verheissung für unsere Zeit ist.

Die grosse Gefahr, sich von unserem Auftrag ablenken zu lassen

Meines Erachtens war es noch nie wichtiger als jetzt, unsere Beziehung zu Gott und unseren Mitmenschen zu vertiefen und als Christen unseren Auftrag als Hoffnungsträger wahrzunehmen. Gottesfurcht oder Heidenangst. Wir müssen uns entscheiden, wovon wir unser Leben bestimmen lassen. Diejenigen, die Hoffnung verströmen, werden in Zukunft Leiterschaft übernehmen.

Vom Wort Gottes her wissen wir, was auf uns zukommt. Es hilft nicht, uns dagegen zu sträuben.

Die grösste Gefahr für uns Christusjünger ist nicht der Virus an sich, sondern dass wir uns von unserem Auftrag ablenken lassen durch unnütze Diskussionen, die nur zusätzliche Verunsicherung und Zwiespalt erzeugen bis hin zu einer lähmenden Zukunftsangst. Unsere Aufgabe ist es, mutig und glaubensvoll Gottes Sicht der Dinge zu verkündigen und inmitten der (end)zeitlichen Geschehnisse auf die ewige Hoffnung hinzuweisen. Gott sei Dank kennen wir den, der im Regiment sitzt.  Hinter Gottes Gerichtshandeln über einer Welt, die sich von seinen guten Ordnungen gelöst hat, ist der Ruf zur Umkehr an sein liebendes Vaterherz. Noch nie waren Menschen so offen für Zeichen von Gottes Liebe und Fürsorge. Noch nie aber waren sie gleichzeitig so angewiesen auf Menschen, die Sinn und Hoffnung vermitteln können. Eine 19-jährige Frau schreibt: «Was bleibt uns noch, als in unseren Wohnungen eingesperrt auf das Ende der Welt zu warten, pessimistisch, müde und handlungsunfähig? Keine Zukunft zu haben ist Teil unserer Identität.» „Help me Jesus!“ schreibt sie in ihr Tagebuch. Sind wir Christen da nicht gefordert, eine Antwort vom Evangelium her zu geben und unseren Mitmenschen den Weg zu Jesus zu zeigen?

Wie können wir Corona positiv nutzen?

Zwischen Auferstehung und Himmelfahrt ist Jesus zweimal nacheinander seinen Jüngern erschienen und hat ihnen den Auftrag gegeben, das Evangelium zu verkündigen mit den Worten: „Friede sie mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich auch euch!“ (Johannes 20, 21)

Vreni und mir ist es mehr denn je ein Anliegen, unser Augenmerk auf die Verheissungen Gottes und nicht auf die Probleme zu richten. Gleichzeitig wollen wir die Not unserer Mitmenschen ernstnehmen und ihnen wo immer möglich praktisch zur Seite stehen. Wir wollen bei der Bewirtschaftung der Ängste nicht mitmachen, sondern im Gegenteil Botschafter der Liebe, des Glaubens und der Hoffnung sein. Wir wollen Lobpreis und Anbetung Gottes als Lebensstil pflegen, im Dankmodus bleiben und andere mit unserer Hoffnung und Freude in Christus anstecken. Wir sind überzeugt, dass der durch Corona verordnete Stopp aus dem Hamsterrad der Leistungsgesellschaft zum Segen werden kann. Als Folge unserer Glaubenshingabe und Erneuerung der ersten Liebe zu Christus werden wir Jesus-Nachfolger wieder zum Segen für eine Generation, die sich nach Hoffnung, Perspektive, echter Liebe und einem Sinn im Leben sehnt. Aber das bedingt einen Perspektivenwechsel unsererseits. Zeiten wie Corona sind Zeiten der Ausreifung und Verstärkung, zum Guten wie zum Schlechten. In Zeiten wo alles drunter und drüber geht, zeigt sich wie tief unser Lebensfundament ist, und ob wir unser Denken und Handeln von ewiggültigen Werten her prägen lassen. Dazu passen zwei Worte des Apostels Paulus, der mehr Bedrängnisse von seiner Umwelt her erlebte als wahrscheinlich wir alle: „Gestaltet euer Leben nicht nach dem Schema dieser Welt, sondern lasst euch umwandeln und eine neue Gesinnung schenken!“ (Römer 12, 2) und: „Trachtet nach dem was droben ist und nicht nach dem, was auf Erden ist!“ (Kolosser 2, 2). Corona ist in unserer hektischen Zeit mit den vielen Ablenkungen für uns alle ein Innehalten und Fragen, was unser Leben in der Vergangenheit geprägt hat und was es in Zukunft prägen soll. Ein erfülltes Leben basiert auf den richtigen Prioritäten.

Heute wie zur Zeit Jesajas fragt Gott seine Kinder: „Wen kann ich senden? Wer ist bereit, mein Bote zu sein?“ (Jesaja 6, 8). Wer ist bereit sich zuvor wie Jesaja reinigen und zurüsten zu lassen? Wem kann Gott die wunderbare Aufgabe anvertrauen, Botschafter der Versöhnung zu sein? Wer lässt sich von falschen Sicherheiten und Götzen in seinem Leben befreien? Wer ist bereit, auf die feine Stimme des Heiligen Geistes zu hören und zu fragen, wer sein Nächster ist, der seinen Zuspruch und seine Hilfe benötigt? Und wem kann Gott vertrauen, dass er/sie beim Gelingen allein Gott die Ehre gibt?

Gebet zu zweit und in kleinen Gruppen zur gegenseitigen Stärkung

In den kommenden Wochen und Monaten ist es zentral wichtig, dass wir einander beistehen und dass reifere gefestigte Christen sich väterlich bzw. mütterlich den Schwächeren annehmen und sie ermutigen.

Seit nun 36 Jahren treffen wir uns wöchentlich im kleinen Kreis in unserem Dorf zum Männergebet. Dabei haben wir festgestellt, dass jeder von uns Zeiten durchlief, wo er auf die Ermutigung und die Fürbitte der anderen besonders angewiesen war. Wir brauchen solche Gebetsfreunde, die schon länger mit Jesus unterwegs sind. Das hilft uns geistlich zu wachsen und fähig zu werden uns wieder anderen Menschen anzunehmen, die noch am Anfang ihres Lebens mit Jesus stehen. Besonders Menschen, die von ihrem Naturell her eher zu den Ängstlicheren und Zweifelnden gehören, brauchen uns. Angst und Zweifel sind bei Gott erlaubt. Den eher ängstlich veranlagten Menschen ruft Jesus zu: Ich bin’s. Fürchtet euch nicht!» (Johannes 6, 20). Jesus Christus begegnet uns oft in unseren Mitmenschen, die uns ermutigen, inmitten wirtschaftlicher und gesundheitlicher Not an Gottes Verheissungen dranzubleiben und uns praktisch und im Gebet zur Seite stehen. Deshalb ist das regelmässige Zweiergebet (physisch oder online) und das Gebet in kleinen Gruppen und Hauskreisen so nötig. Auch das gemeinsame Einnehmen des Abendmahls ist eine grosse Stärkung. Wichtig ist in jedem Fall, dass wir immer wieder Zeit nehmen, um Gott auf vielfältige Weise zu loben und ihm als Schöpfer zu danken. Zuhause dürfen auch Nicht-Profis singen! Gemütliche Jogging-Runden und Wanderungen in Gottes Natur laden geradezu zu einem Lob an unseren Schöpfer und Vater ein.

Beim Studium von Biographien habe ich festgestellt, dass es oft Zeiten der Not waren, die sie zu diesen starken Personen, die ein Segen für ihre Umwelt wurden, geformt haben. Ich habe Prägendes  von 30 christlichen Persönlichkeiten in kurzen Lebensbildern zusammengefasst. Die Palette reicht von Niklaus von Flüe, Christian Friedrich Spittler, Pfr. David Spleiss, Samuel Gobat, Dorothea Trudel, Henry Dunant, Dora Rappard, Bundesrat Wahlen, Pfr. Paul Vogt, Ernst Aebi, General Henri Guisan bis zu Vonette Bright. Daraus drei Zitate: Samuel Zeller, Leiter des Bibelheims Männedorf: «Gott hat nicht nur eine Sanitätsabteilung sondern auch eine Erziehungsabteilung.» Ernst Nigg, Oberst der Heilsarmee: «Das, was vor 2000 Jahren in Palästina passiert ist, kann heute und jetzt noch erlebt werden.» Ernst Rudin, CVJM-Sekretär: «Was du an der Stillen Zeit absparst, verlierst du; was du dazufügst, gewinnst du.» Die 32seitige Broschüre kann kostenlos bei mir bezogen werden.

Abschliessend ist es mir wichtig zu betonen, dass wir Gott im ernsthaften Gebet suchen sollen, ob und wann und wie nun die ersehnte geistliche Erweckung kommt oder nicht. Wer definitiv kommen wird, wissen wir. «Die Herren der Welt gehen, unser Herr kommt!» (Gustav Heinemann).

«Denn ich weiss wohl, was für Gedanken ich über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden, wenn ihr mich von ganzen Herzen suchen werdet.»

Jeremia 29, 11-13

Die Freude am Herrn ist und bleibt unsere Schutzburg und Stärke (vgl. Nehemia 8, 10)“

Hanspeter Nüesch, ehemaliger Leiter von Campus für Christus und langjähriges Mitglied der Chrischona Buchs ZH. Verheiratet mit Vreni Nüesch. Das Magazin „Erweckung – Merkmale und Voraussetzungen“, die A4- Zusammenfassung sowie die Broschüre mit den 30 Lebensbildern von prägenden Persönlichkeiten können kostenlos bei ihnen bezogen werden: hpnuesch7@gmail.com.

 

Herzlichen Dank, H.P., für Deinen leidenschaftlichen Aufruf, noch an eine Erweckung in unserem Land zu glauben und dafür zu beten! Chrischona war seit den Anfängen eine Gebets-Bewegung, soll es auch weiterhin bleiben und immer wieder neu werden. Ich selbst durfte während Jahren in einer Chrischona Gemeinde als Pastor dienen, die wie andere Gemeinden in der Schweiz aus einer Erweckung um 1900 entstanden ist. Und u.a. in einem Jugendlager während meiner Zeit bei Euch in Buchs durfte ich selbst eine kleine Erweckung miterleben. Ich verstehe Dich so, dass Du die Prinzipien, die Du in Deinem Plädoyer beschreibst, nicht als magische Gesetze und knechtende Erwartungen siehst, sondern als Erfahrungswerte, die uns zur befreienden Ermutigung, Ausrichtung und Bevollmächtigung dienen sollen. In den letzten Monaten habe ich wiederholt die Einheit im gemeinsamen Bekenntnis des Evangeliums, wie wir es gerade im Apostolischen Glaubensbekenntnis finden, und die Einheit im Wirken des Heiligen Geistes hochgehalten. Es geht um die Kraft (Dynamis) des Evangeliums und um die Kraft (Dynamis) des Heiligen Geistes (Röm 1,16; Apg 1,8), die uns in Dynamik versetzen möchten. Das Gebet ist dabei ein zentraler Aspekt. Der Heilige Geist ist ein Geist des Gebetes: Er möchte uns im Gebet erfüllen und sein Wirken in uns führt uns wiederum ins Gebet.

Christian Haslebacher

Christian Haslebacher

Regionalleiter Ostschweiz und Vorsitzender

Christian ist verheiratet mit Annette, hat drei Kinder und lebt im Thurgau. Er ist neben seinem Job als Regionalleiter auch Vorsitzender des Leitungsteam von Chrischona Schweiz. Er liebt gute Diskussionen.

Menschenwürdiges Leben während der Corona-Pandemie

Menschenwürdiges Leben während der Corona-Pandemie

Menschenwürdiges Leben während der Corona-Pandemie

© dusanpetkovic – de.freepik.com

Das Corona-Virus beeinflusst unseren Alltag wieder stark. Während die Infektionszahlen leicht sinken, stagnieren und steigen, diskutieren Politiker, Epidemiologen und andere Experten über mögliche Massnahmen, um auf diese Entwicklungen zu reagieren. Eine solche Diskussion kann grundsätzlich auf zwei Ebenen stattfinden:

Einerseits können konkrete Massnahmen, die die Ausbreitung des Virus aufhalten können, thematisiert und deren Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen werden. Dabei wird z. B. über die Maskenpflicht gesprochen und festgelegt, wie genau diese umgesetzt werden muss, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Auch der Lockdown im Frühjahr war eine solche Massnahme, die auch heute wieder in einigen Ländern Europas zur Bekämpfung der Corona-Pandemie eingesetzt wird.

Andererseits können wir uns als Gesellschaft mit den Leitlinien bzw. der grundlegenden Ausrichtung auseinandersetzen, die uns bei der Reaktion auf die Pandemie, Orientierung geben sollen. Bei diesem Vorgehen werden grundsätzliche Fragen zum Zielhorizont der konkreten Massnahmen gestellt, der aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie kritisch reflektiert und Schlüsse für den Umgang mit vergleichbaren Situationen in der Zukunft gezogen. Mir scheint, dass diese Art der Auseinandersetzung in der öffentlichen Debatte aktuell zu kurz kommt, weshalb ich im Folgenden einige Gedanken dazu ausführen und damit zum gemeinsamen Diskutieren anregen will.

Ein wenig bekanntes Virus, das eine tödliche Krankheit auslösen kann und sich unkontrolliert verbreitet, löst bei vielen Menschen verständlicherweise Unsicherheit und Angst aus. Was liegt da näher als zu überlegen, wie dieses Virus gestoppt werden kann. Wir alle wollen unser Leben behalten und sind deshalb bereit, vieles dafür zu tun. Aus diesem Grund sind wir in einer solchen Situation auch geneigt, sämtliche Anstrengungen auf die Erhaltung unseres Lebens auszurichten. Eine solche Position vernachlässigt allerdings die Frage, was für ein Leben wir erhalten wollen. Mit diesem einseitigen Fokus gefährden wir deshalb letzten Endes genau das Leben, das wir zuvor schützen wollten. Der Theologe und Philosoph Robert Spaemann plädierte deshalb dafür, Lebenserhaltung und Lebensentfaltung stets zusammen zu denken und niemals gegeneinander auszuspielen.

Wie können wir diesem Ratschlag folgend beim Umgang mit der Corona-Pandemie die Entfaltung unseres Lebens wieder stärker in den Mittelpunkt rücken?

Zunächst müssen wir wieder lernen, dass Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Gestaltung unseres Lebens legitim sind und geäussert werden dürfen. Wir sollten gemeinsam darüber reden, was das Leben lebenswert macht. Worauf wollen wir als Einzelne und als Gesellschaft nicht verzichten, weil sonst etwas Entscheidendes fehlen würde? Ich kann diese Fragen hier nicht umfassend beantworten, möchte aber einige Vorschläge zur Debatte stellen:

Als Menschen brauchen wir ein Gegenüber und die Gemeinschaft mit anderen, um unser Leben in all seinen Facetten entfalten zu können. Als Christen sind wir davon überzeugt, dass wir für ein gelingendes Leben neben der Gemeinschaft mit anderen, die Verbindung zu Gott brauchen. Beides, die Begegnung mit Gott und Mitmenschen, sollte während der Corona-Pandemie möglich sein dürfen. Dabei sind qualitative Einschränkungen in der Begegnung, wie z. B. Masken und körperliche Distanz, hinnehmbar, da sie das Miteinander unter diesen Rahmenbedingungen erst ermöglichen. Auch eine sinnstiftende Beschäftigung gehört zu einem gelingenden menschlichen Leben, weil wir uns dabei als wirksam, kompetent und wertvoll erleben können. Wird einem Menschen sowohl die Gemeinschaft mit einem Gegenüber als auch die Ausübung einer bedeutungsvollen Tätigkeit erschwert, wie das im Lockdown zu beobachten war, leidet darunter die Entfaltung des individuellen und kollektiven Lebens mit nicht absehbaren Konsequenzen.

Aus diesen Überlegungen darf allerdings auch nicht abgeleitet werden, dass der individuellen Lebensentfaltung keine Grenzen gesetzt werden dürfen. Als Menschen können wir unsere Interessen zurückstellen und die Interessen des Gegenübers als bedeutsamer anerkennen. Weil wir aber diese Fähigkeit besitzen, dürfen wir beanspruchen, dass unsere Interessen bei der Entscheidungsfindung des Gegenübers (oder des Staates) ebenfalls Berücksichtigung finden. Dies gilt ebenfalls oder vielleicht gerade besonders bei der Ableitung von Massnahmen zur Eindämmung einer Pandemie.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich will die Gefährlichkeit des Virus oder gar seine Existenz nicht herunterspielen oder leugnen. Das Virus stellt eine Gefahr für die Gesundheit und das Leben vieler Menschen dar. Covid-19 kann aber auch zu einer Gefahr für wichtige Eckpfeiler einer menschenwürdigen Gesellschaft werden. Wir können dies verhindern, wenn wir anfangen darüber nachzudenken, was uns für unser Leben wirklich wichtig ist. Diesen Schatz können wir dann gemeinsam schützen und pflegen. Auf diese Weise kann diese Pandemie sogar zu einer Chance für uns alle werden.

 

Dietrich  Wagner

Dietrich Wagner

Gastautor

Dietrich Wagner forscht an der Uni St.Gallen zum Thema Wirtschaftsethik. Er liebt es, beim Denken nicht nur an der Oberfläche zu bleiben.

 

Die Akteurin für Heilung

Die Akteurin für Heilung

Die Akteurin für Heilung

© MIchele Cammarano / Public Domain

Die Ermordung des afroamerikanischen Staatsbürgers George Floyd durch einen weißen Polizisten in den Vereinigten Staaten hat uns alle erschüttert und eine Welle des Protests gegen Rassismus in Nordamerika und auf der ganzen Welt ausgelöst. Es versteht sich von selbst, dass das Thema Rassismus ein sehr komplexes Thema ist, denn es ist uralt und systemisch verwurzelt in unserer Gesellschaft. Diskriminierung und Rassismus sind nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Im Gegenteil, was in Nordamerika geschieht, hat seinen Ursprung hier in Europa. Wir leben heute mit den Folgen dieser Realität, mit den Folgen von Kolonialisierung und Sklaverei.

In der Schweiz nimmt der Rassismus oft eine sehr subtile, indirekte Form an. Sie manifestiert sich in kleinen Sätzen, die von Vorurteilen herkommen und die wir täglich hören. Es beginnt mit kleinen Bemerkungen wie „aber dieser Name kommt doch von einem anderen Land? Ich meine, sie sind nicht wirklich Schweizer“ oder „das ist unglaublich, sie haben wirklich keinen Akzent, woher kommen sie denn?“ bis hin zu rassistischen Witzen, die sich hinter einem „Verstehen Sie das nicht falsch, es ist nur ein Witz, wir sind keine Rassisten“ verbergen. Oder „das passt ganz zu ihnen“, denn, ja, beim Rassismus geht es auch darum, eine Rasse zu stereotypisieren und Verhaltensweisen zu verallgemeinern.

Als Christen, die das Reich Gottes aufbauen, wollen wir sicherstellen, dass wir respektvoll und gerecht agieren. Es liegt in unserer Verantwortung, aufzustehen, wenn Ungerechtigkeit geschieht, weshalb wir der Ungerechtigkeit der Unterdrückten besondere Aufmerksamkeit schenken wollen. Wenn in unseren Gemeinden Menschen ihre Erfahrungen oder Leiden im Zusammenhang mit Rassismus zum Ausdruck bringen, sollten wir das Thema nicht bagatellisieren. Wer kennt nicht schon das berühmte „Ach du übertreibst, heute gibt es in der Schweiz keinen Rassismus mehr“ oder „in der Schweiz ist Rassismus nicht so schlimm“. Diese ungerechtfertigten Überlegungen minimieren die Schwierigkeiten, denen Menschen tagtäglich ausgesetzt sind. Wie könnten wir es wagen, mit einer schwierigen Erfahrung, die Leid verursacht, nicht einverstanden zu sein, nur weil wir diesen gewöhnlichen Rassismus nicht in unserem täglichen Leben erleben? Und schließlich: Wie offen sind wir für Menschen, die täglich Rassismus erleben?

Wir müssen uns als Einzelne, aber auch als Kirche, der rassistischen Ungerechtigkeiten bewusst sein, mit denen viele Menschen hier in der Schweiz und manchmal auch in unseren Gemeinden konfrontiert sind. Die Kirche hat ihre Rolle als Akteurin des Wandels, der Heilung und der Wiederherstellung wahrzunehmen, besonders auch dann, wenn sich die Medien plötzlich einem anderen aktuellen Thema zuwenden. Wir wollen als Christen dafür bekannt sein, dass unsere Kirchen Orte sind, in denen ein konstruktives Zusammenleben jeglicher ethnischen Gruppe oder Hautfarbe möglich ist. Dieser Mentalitätswandel darf uns gerne noch ein bisschen beschäftigen.

Fabienne Fuchser

Gastautorin

Fabienne hat in Lausanne und Genf Recht studiert (Master of Law) und die Anwaltsschule absolviert. Momentan arbeitet sie am eidgenössischen Strafgericht in Bellinzona. In ihrer Freizeit spielt sie Klavier und singt in einem Gospelchor