Krisenfest

Krisenfest

Krisenfest

© ehmitrich

Es ist ernüchternd, wie schnell das Geschehen in der Ukraine das Dauerthema Corona verdrängt! Während zwei Jahren wurden wir täglich mit Fallzahlen und neuen Verordnungen konfrontiert. Wir haben laufend unser Leben neu eingerichtet, in den Kirchen nach Wegen für ein gemeinsames Miteinander gesucht, mit Freunden über Zertifikatspflicht und vermeintlichen Impfzwang gestritten. Long-Covid hat Vereinzelte knallhart getroffen und ihr Leben auf den Kopf gestellt. Andere haben sich aus Angst zurückgezogen. Freunde sind vermeintlich Fremde geworden.

Doch jetzt – seit dem 24. Februar – ein abrupter Krisenwechsel: Der russische Angriffskrieg eröffnet eine neue Dimension des Schreckens. Fast identisch wie Polen 1939 mit einem Lügenkonstrukt von Falschinformationen überfallen wurde, tut es Putin in der Ukraine. Damit so etwas nicht mehr geschehen sollte, wurde noch während dem Zweiten Weltkrieg 1942 die UNO gegründet, zu der auch Russland und China dazu kamen. In der Moskauer Deklaration wurde am 30. Oktober 1943 eine neue Friedensordnung verabschiedet. Und jetzt das! Heute! In unserer aufgeklärten Zeit!

Ich schiebe den Einkaufswagen durch die Gestelle. Meine Gedanken wirbeln durch eine weitsichtige Reserven- und Vorräteplanung. Meine Hände greifen nach Büchsenbohnen, Reis und Dörrtomaten. Ich spüre, wie eine leise Angst meinen Einkaufswagen füllt. Wohin wird sich das alles entwickeln? Wird das 2022 ein neues 1939?

Heute Morgen telefoniere ich mit einem Nachbar. Er ist 48 Jahre alt, verheiratet, hat drei Teenager-Mädchen. Seit drei Wochen weiss er um einen Leberkrebs mit Ablegern überall im Körper. Die Lebenserwartung beträgt vier bis sechs Wochen. Ich habe ihm angeboten, Zeit für ihn zu haben, wann und wofür immer er diese braucht. Ich frage ihn: «Wie kommst du mit dir selbst zurecht?» Mit ruhiger Stimme antwortet er: «Ich fühle mich mega beschützt! Ich habe noch nie nach dem Warum fragen müssen – weder mich selbst noch Gott oder die Menschen um mich!»

Seine Antwort bewegt mich zutiefst. Der starke Drang, das Warum in Krisen zu verstehen, wird uns keinen Frieden geben können. Unser Wissensdurst nach Hintergründen macht uns nicht krisenfester. In den Auseinandersetzungen mit den kontroversen Corona-Meinungen habe ich keinen Mehrwert gefunden. Die Folge war eher, dass sich einige in das Gedankenkonstrukt ihrer eigenen Wahrheit zurückzogen und andere zu Gegnern machten.

Letzthin haben wir im Leitungsteam von Chrischona Schweiz den Psalm 86 gebetet. Das Gebet ist eine Anleitung, wie wir krisenfest werden können. Ich lade Dich ein, diesen Psalm zu Deinem Gebet zu machen: «Neige, Herr, dein Ohr, erhöre mich, denn ich bin elend und arm. Bewahre mein Leben, denn ich gehöre dir!» David führt uns von uns selbst weg. Er ist so brutal im Elend, dass er sich schon als tot empfindet! Doch er schlägt sozusagen im «offenen Grab» nochmals die Augen auf und findet bei Gott Güte, Barmherzigkeit und sogar neue Freude. Der Psalm 86 ist eine tiefschürfende Anleitung, wie unser Herz von uns selbst und unseren Ängsten wegfinden kann. Bete Psalm 86 mit David, mit mir und weiteren Millionen Anderen! Die Nähe Gottes macht uns krisenfest.

Beat Ungricht

Beat Ungricht

Regionalleiter Zürich

Beat ist mit Bea verheiratet, die beiden haben drei Kinder und leben in Elsau, Winterthur. In der Region Zürich begleitet er 22 Gemeinden und brennt dafür, dass Jesus durch uns und unsere Gemeinde erlebbar wird. Er liebt es, zu vernetzen, beraten, nah und weit zu denken und mutig zu agieren.

Der Spannungsbogen eines Pastors

Der Spannungsbogen eines Pastors

Der Spannungsbogen eines Pastors

© Beat Ungricht

Nun arbeite ich seit vier Jahren als Regionalleiter bei Chrischona Schweiz. In der Zeit haben ich einige Male schmerzhaft erlebt, dass Pastoren im Altersbereich 50+ in eine Krise hineinrutschen, die sie oft selbst gar nicht recht benennen können. Sie spüren einfach: Vor nicht langer Zeit habe ich echt etwas bewegen können, war da und dort sehr kraftvoll unterwegs. Aber jetzt… leise Kritik da und dort.

Ich selbst werde träge, spüre auch etwas mein «Älter-werden». – In diese Situation hinein habe ich vor einem Jahr den folgenden Aufatmen-Artikel geschrieben. Ich hoffe, dass er dich inspiriert, genauer und vertiefter in dich hineinzuhören. Ich selbst habe erfahren, dass eine nochmalige Berufsausbildung mich um die 50ig enorm herausgefordert, mich aber auf eine nächste Ebene geführt hat, in der ich top motiviert in meiner Berufung unterwegs sein kann. Jesus möge dich in ein offenes Suchen und Finden führen! Sei gesegnet! Wenn du zu diesem Thema ein persönliches Gespräch wünschst, kannst du mich gerne ansprechen.

In meiner zwanzigjährigen Dienstzeit als Pastor einer Freien Evangelischen Gemeinde habe ich mit den ehrenamtlichen Vorsitzenden fast jedes Jahr darüber nachgedacht: Wo stehen wir gemeinsam? Wie gut gelingt es mir als leitender Pastor, unsere Gemeinde weiter zu entwickeln und in eine nächste Phase zu führen? Wie schätzen wir diese Entwicklung für die nächsten Jahre ein? Braucht es weitere Begabungen, ergänzende oder andere Persönlichkeiten? Beides war mir wichtig: eine aktuelle Bestandsaufnahme wie auch eine langfristige Weitsicht. Warum?

Ich bin überzeugt, dass die meisten Pastorinnen und Pastoren (im Folgenden immer geschlechtsneutral gemeint) in ihrer Gemeindearbeit so etwas wie einen Spannungsbogen erleben, in dem sie die Gemeinde weiterentwickeln können. Dabei ist wichtig, dass jeder Spannungsbogen Anfang und Ende hat.

Das Bild eines Spannungsbogens wird oft beim Erzählen von Geschichten, im Aufbau von Filmen oder Theaterstücken verwendet. Der Spannungsbogen ist der „Rote Faden“ oder die „Klammer“, die eine Geschichte zusammenhält und umschliesst. Es geht darum, Aufmerksamkeit, Interesse und Erwartung von Zuschauenden möglichst durchgängig aufrecht zu erhalten. Pastoren sind sich aber oft kaum bewusst, dass sie im Verlauf ihrer Gemeindearbeit so etwas wie einen Spannungsbogen aufbauen oder Akteur in einem solchen sind. Und dass sie ihn möglichst durchgängig aufrechterhalten sollten, um zum richtigen Zeitpunkt zu einem guten Abschluss zu finden.

Ein Spannungsbogen baut sich auf

Wenn Pastoren eine gesunde Gemeindesituation antreffen, erwartet sie meist in den ersten zwei Jahren ein herzliches Willkommen und eine konstruktive Offenheit. Die einen Personen sind zugänglich oder sogar aufdringlich, andere eher zurückhaltend. Es entstehen bunte Beziehungen – manche näher, andere etwas ferner. Gute Beziehungen sind der elastische Kitt zwischen lebendigen „Menschensteinen“ beim Bauen der Kirche (1. Pet 2,5).

Bald entwickeln sich Ideen, wie Gemeinde auch anders sein könnte. Je nach Leitungspersönlichkeiten und Gemeindegrösse entstehen neue Werte, Visionen und Strategien. Die Kultur verändert sich. Gute Teams entwickeln die Fähigkeit, in einem komplexen Umfeld auf das einzugehen, was Gottes Geist überraschend einfädelt. Interessierte kommen dazu.

In dieser neuen Dynamik können Leitung und Pastor die Gemeinde durch verschiedene Initiativen und Projekte in eine nächste Phase führen. Beispiele:

  • Die Aufmerksamkeit auf das lenken, was Gott in und ausserhalb der Gemeinde tut/tun will und die Werte und Vision darauf ausrichten.
  • Eine Kultur entwickeln, in der die Gemeinde ein öffentlicher Ort wird, an dem jede/r willkommen ist.
  • Den evangelistischen Auftrag mehr als alles andere hochhalten und neue Zugänge zu einem evangelistischen Lebensstil erschliessen.
  • Es wächst eine Kultur der Wertschätzung, der Grosszügigkeit und des Respekts.
  • Leute mit sozialdiakonischem Anliegen finden Handlungsfelder und gewinnen weitere Gemeindeglieder für Projekte.
  • Neue Gebets- und Geistesbewegungen (z.B. prophetische Sensibilität für das Reden Gottes) können entstehen.
  • Die Lobpreisleiter und -teams entwickeln unterschiedliche Anbetungszugänge und gewinnen die Gesamtgemeinde dafür.
  • Kleingruppen fokussieren sich auf Jüngerschaftstraining.
  • Leiterinnen und Leiter werden gezielt gefördert und gecoacht.
  • Durch die Zusammenarbeit mit anderen Kirchen werden Christen vor Ort sichtbar und erlebbar.

Pastoren investieren jahrelang in solche und andere Initiativen und Entwicklungen und erleben dabei ein Auf und Ab, wie es in der Skizze hier sichtbar wird. Manchmal sind sie der Gemeinde voraus, manchmal empfinden sie, dass sie der Gemeinde gerade nichts mehr zu sagen haben und die Gemeinde kaum in eine nächste Phase führen können.

Ich glaube, dass sich während der Zeit des intensiven Arbeitens bei den meisten Pastoren eine Botschaft entwickelt. Er wird mit der Zeit bekannt für eine Leidenschaft und ein Anliegen. Niemand hat alle Gaben oder vertritt jede Leidenschaft – aber auch wenn er zu unterschiedlichen Themen predigt, wird man seinen Herzschlag immer wieder heraushören. Dafür steht der Pastor. Dafür wird er bekannt. Der Heilige Geist formt diese Botschaft. Oft wird sie früh durch starke Erlebnisse in der eigenen biographischen Gemeindeentwicklung als eine Art DNA angelegt. Doch mit den Jahren gewinnt sie Kontur und wird formulierbar. Viele lassen sich von diesem Herzschlag anstecken. Ein Hinweis darauf kann sein, dass da und dort Anfragen für Vorträge und Predigten von ausserhalb an den Pastor gelangen.

Die Dynamik kann nachlassen

In diesen kraftvollen Jahren gibt es viel Arbeit. Zugleich nimmt die Spannung zu – aber manchmal beginnt der Bogen auch abzuflachen. Es kann zu kleineren oder grösseren Abnützungserscheinungen kommen. Oft hängen diese mit der Fähigkeit des Pastors zusammen, sich selbst so zu leiten, dass er geistlich, emotional und körperlich ausgeglichen und gesund bleiben kann. Der Zeitpunkt eines ersten „Einbruchs“ lässt sich nur bedingt festmachen, doch er kann schon nach wenigen Jahren eintreten. Dabei sind Fragen und Zweifel ganz normal, und es ist wichtig, sie jedes Jahr mit einigen Verantwortlichen in der Leitung zu teilen. Gemeinsam kann abgeschätzt werden, ob die ganze Leitung einbezogen werden soll. Geschieht dies, beginnt eine er weiterte Stufe der Fragestellung, bei der Pastoren und Gemeindeleitungen bereit sein müssen, nach dem Hinschauen auch Konsequenzen auszulösen. Es ist gut, wenn man das ausspricht und sich bewusst darauf einlässt.

Das Nachlassen der Dynamik kann sich durch eine gewisse Kurzatmigkeit bis hin zu einer Erschöpfung des Pastors äussern. Es kann wertvoll sein, sich dann folgende Fragen zu stellen:

  • Sind die Erwartungen der Gemeinde überhöht?
  • Wird der Pastor gut durch Assistenz-, Führungs- oder Verantwortungspersonen ergänzt? In welchen Bereichen könnte das gezielt ausgebaut werden?
  • Falls der Pastor die Gemeinde gegründet hat, stellen sich Fragen wie: Gelingt es dem Pionierpastor zu konsolidieren und zu strukturieren, damit weiteres Wachstum möglich wird? Welche Ergänzung braucht er neben sich – duldet er diese nur oder begrüsst er sie aktiv?
  • Wie kann sich der Pastor längerfristig so weiterbilden und neue Inspiration erhalten, dass er in einer nächsten Phase seine Leidenschaft „neu“ einbringen kann und weiterhin etwas zu sagen hat?
  • Wie können seine Stärken erweitert werden?
  • Manchmal zeigen sich ausgeprägte Schwächen, die ein Pastor und die Leitung offen erkennen. Zum Beispiel: Wie empathisch ist er? Wie strategisch denkend? Wie könnte er in einer nächsten Phase bewusst in diese Schwachstellen investieren, um mehr Balance herzustellen?
  • Wie erweitert er seine Führungsfähigkeiten?
  • Wie entwickelt er seine Predigtfähigkeit und Inspiration in eine nächste Phase? Das ist oft ein heikler Punkt bei Pastoren. Viele nehmen ein Hinterfragen hier sehr persönlich. Doch an dieser Stelle liegt grosses Potential für ein echtes Durchstarten – oder für eine Abwärtsentwicklung des Spannungsbogens.
  • Ist eine weitere Anstellung hilfreich? Manchmal macht es eher Sinn, eine initiative Assistenz-Person für den Pastor anzustellen, als einen neuen Pastor dazu zu nehmen. So würde er von Management- und Administrationsaufgaben entlastet.
  • Welche strukturellen Anpassungen würden helfen, damit Leitung und Gemeinde in eine nächste Phase gehen kann? Hier ist es oft hilfreich, einen Coach beizuziehen, der in Gemeinde- und Organisationsentwicklung Erfahrung hat.
  • Ist es dran, dem Pastor eine Auszeit zu ermöglichen, damit er neu auftanken kann? Sind wir hörbereit für Veränderungen durch diese Zeit?

Gelingt es dem Pastor gemeinsam mit der Leitung, diese ersten Abnützungserscheinungen proaktiv anzugehen, bestehen gute Möglichkeiten, sich neu auf einen weiteren Weg einzulassen. In einem Zeitabschnitt von sieben bis zwölf Jahren werden sich solche Momente in kleinen oder grösseren Etappen wiederholen.

Gary McIntosh wagt in seinem Buch „Stufen des Gemeindewachstums“ die These: „Gemeinden wachsen so stark wie ihre Pastoren wachsen.“ Als ich das Buch las, betete ich in meinem Tagebuch: „Jesus, zeige mir, wie ich unserer Gemeinde so vorauswachsen kann, dass sie nicht mit mir oder sogar wegen mir stillsteht!“

In der Phase eines flacher werdenden Spannungsbogens frage ich Pastoren in Beratungsgesprächen oft: Wo befindest du dich in etwa auf deinem Spannungsbogen? Welche Eigen- oder Fremdwahrnehmungen führen dich zu der aktuellen Einschätzung? Wohin und wie wirst du dich in den nächsten fünf Jahren weiterentwickeln? Wirst du diese Arbeitsstelle verlassen oder hier nochmals eine neue Dynamik entwickeln können?

Abriss des Spannungsbogens

Leider erlebe ich auch, wie Pastoren einen Abriss ihres Spannungsbogens erfahren. Meist kündigt er sich leise an, aber er kann durchaus überraschend und schmerzvoll passieren. Oft zuerst im eigenen Erschrecken: „Mein Beten oder meine Predigt sind ungläubig geworden! Habe ich nicht längst gesagt, was ich zu sagen habe? Meine Projekte sind umgesetzt oder verraucht! Habe ich Glauben, Inspiration, fachliche Gemeindebau-Kompetenz und genügend Energie, um ‚meine‘ Gemeinde weiter zu führen? Ach, andere könnten das viel besser …!“

Noch intensiver nagen die Fragen, wenn ein Freund nach der Gemeindeleitungssitzung im Auto den Motor abstellt: „Hast du noch eine Minute? Mich beschleicht in der letzten Zeit ein merkwürdiges Gefühl! Ich spüre eine leise Unzufriedenheit. Das schreckt mich auf: Jahrelang wussten wir, wohin wir das Schiff lenken! Haben wir die Sicht verloren, wohin wir fahren wollen?“ Wenn solche Fragen auftauchen, kann es sein, dass Gemeindeleitung und Pastor ihren Spannungsbogen bereits überspannt haben.

Leider geschieht es, dass Pastoren, die ihren Spannungsbogen überdehnen, manches von dem zerstören, was sie in den Jahren zuvor positiv aufgebaut haben. Es gibt Situationen, in denen Pastoren – manchmal sogar in den letzten Berufsjahren – gekündigt werden muss, weil sie sonst die Gemeinde zerstören würden. Die Trauer über einen solchen letzten Dienstabschnitt und die notwendige berufliche Neuorientierung könnte erspart bleiben, wenn Pastoren, Leitungen und eventuell Verbandsleiter den Ort auf dem Spannungsbogen eines Pastors miteinander frühzeitig und offen thematisieren würden.

Ganz klar: Die Gemeinde darf nicht „dem Pastor geopfert werden“ – und der Pastor darf nicht „der Gemeinde geopfert werden“. Es ist genau umgekehrt: Die Gemeinde soll die Kräfte ihres leitenden Pastors freisetzen und der Pastor soll solange weiterführen, wie er spürt, dass er mit seinem vitalen Spannungsbogen die Gemeinde weiterentwickeln kann.

Leitende Pastoren, die zwischen 50 und 55 Jahren sind, sollten mit der Leitung zusammen proaktiv, ehrlich und ohne Rücksichtname die obigen Fragen beantworten können. Tun sie das nicht, kann es geschehen, dass sie die Gemeinde durch ihren eigenen sinkenden Spannungsbogen mit sich nach unten ziehen. Die Praxis zeigt, dass in solchen Momenten meist viel Barmherzigkeit da ist und man den Pastor die letzten Jahre noch „aushält“, „ihn durchliebt“ und „ihn machen lässt“. Doch so richtig Freude macht es niemandem mehr – weder dem Pastor, noch der Leitung, noch der Gemeinde. Wenn sich in einer solchen Situation Menschen verabschieden, kann die Gemeinde in ihrer Existenz gefährdet sein – vor allem kleinere Gemeinden.

Persönliche Herausforderung

Ein Unternehmer fragte mich in meinen letzten Jahren in Winterthur: „Wie lange brauchst du eigentlich, um eine Predigt vorzubereiten? Vermutlich bist du mit dem grossen Erfahrungshorizont sehr effizient geworden!“ Meine Antwort überraschte ihn:

„Nein, ich brauche länger denn je für die Vorbereitung einer Predigt! Ich muss mehr investieren, weil ich mit dem, was Gottes Geist durch mich sagen will, überraschen möchte! Ich will und kann nicht immer in etwa das Gleiche sagen, sonst hängen die Leute schon ab, wenn ich die Stufen zur Bühne hinaufsteige! Es kostet mich viel, immer wieder selbst neu inspiriert zu werden.“ Einer meiner besten Freunde, er war Vorsitzender der Gemeinde und damit mein Chef – forderte mich nach etwa 17 Jahren in einem Mitarbeitergespräch heraus: „Du machst vieles sehr gut, aber nach wie vor bist du in einigen Leitungsbeziehungen zu wenig empathisch. Ich möchte dir als nächstes Jahresziel eine Herausforderung mitgeben: Versuche deine empathischen Führungsfähigkeiten zu erhöhen!“ Die Art und Weise, wie er mir das sagen konnte, zeigte mir einmal mehr, wie wichtig echte Freunde sind!

Mit Jesus, meiner Frau und meinem Mentor zusammen entschied ich, eine zweijährige Kontemplations- und Beratungsausbildung zu machen. In dieser Zeit bin ich Jesus und mir selbst in einer ganz neuen Art begegnet – und vieles davon wirkt sich bis heute stark auf mein Arbeiten aus. Unter anderem investiere ich viel mehr in Menschen, als ich das je zuvor gemacht habe.

Wie geht es Ihnen? Welche Freunde fordern Sie heraus, nächste Schritte zu planen und konkret anzupacken, damit Sie Ihrer Arbeit oder Ihrer Gemeinde vorauswachsen können? Welchen Plan haben Sie für Ihre Weiterentwicklung?

Zu einem guten Abschluss finden

Zwischen 12 und 22 Jahren nach Start werden sich bei den meisten Pastoren und Gemeindeleitungen die Fragen verdichten. Durch grosse Projekte – bei uns in Winterthur waren es die Erneuerung der Gemeindevision nach aussen in die Stadt, der Aufbau der Sozialfirma „Stägetritt“ und der Neubau gate27 – ist es wichtig, dass ein Pastor auch längerfristig die nachhaltige Entwicklung trägt und begleitet. Sicher stimmt es, dass ein häufiger Wechsel von leitenden Pastoren in grösseren Gemeinden schädlich ist. Das hängt auch damit zusammen, dass sich in grösseren Gemeinden ein Pastorenteam die verschiedenen Dienste teilt und somit eine Breite und Vielfalt entsteht. Dadurch können die unterschiedlichen Bedürfnisse und Erwartungen besser getragen werden.

Aber auch in langfristigen Engagements stellen sich mit der Zeit grundlegende Fragen wie:

  • Ist es dem leitenden Pastor möglich, erreichte Ziele und Visionen so zu erneuern, dass er die Gemeinde in eine nächste Wachstumsphase führen kann?
  • Der Pastor ist „in die Jahre gekommen“. Hat er die Energie und Kraft, nochmals durchzustarten und sich in eine neue Generation von Leitenden zu engagieren? Unter Umständen bedeutet das einen grundlegenden Umbau seiner eigenen Leitungskultur und -struktur. Hat er eine innere Flexibilität, um sich wirklich auf Neues einzulassen oder hält er an Altem fest, weil er damit erfolgreich war?
  • Hat der Pastor genug Persönlichkeit und hat er ein tragfähiges Leitungs- und Angestelltenteam aufbauen können, damit er in eine Vaterrolle hineinwachsen und sich von manchen operativen Verantwortungen verabschieden kann?
  • Werden auch die Fragen um einen guten Dienstschluss und Abschied in offenen Prozessen bearbeitet, und ist die ganze Gemeinde in einer guten Weise informiert oder sogar involviert? Lassen sich diese und andere Fragen positiv beantworten, dann ist es gut möglich, dass der Pastor bis zum Ende seiner Dienstzeit die Gemeinde in einer vorbildlichen Weise führen und begleiten kann (hellblaue Line) – vermutlich in einer immer stärker werdenden Vaterrolle. Der Spannungsbogen kann weiter kraftvoll bleiben, was sich vor allem in tiefschürfenden und glaubensstärkenden Predigten zeigt.

In all diesen Fragen braucht es viel Weisheit und vor allem eines: Demut! Sie ist die höchste Tugend im Umgang mit dem eigenen Spannungsbogen – und dem der anderen.

 

Beat Ungricht

Beat Ungricht

Regionalleiter Zürich

Beat ist mit Bea verheiratet, die beiden haben drei Kinder und leben in Elsau, Winterthur. In der Region Zürich begleitet er 22 Gemeinden und brennt dafür, dass Jesus durch uns und unsere Gemeinde erlebbar wird. Er liebt es, zu vernetzen, beraten, nah und weit zu denken und mutig zu agieren.

Geteilt ganz glauben

Geteilt ganz glauben

Geteilt ganz glauben

Credit: iStock.com/Mimadeo

Diese Woche bewegt mich der Psalm 27. David ringt um Nähe und Distanz mit Gott! Auf der einen Seite empfindet er sich als «ganz» und «integer», auf der anderen Seite als «geteilt» und «fragmentiert».

Ich spüre, wie ich da ganz David bin. Auf der einen Seite glaubt er ganz. Nichts kann ihn erschrecken – auch nicht massive Konfrontationen wie Krieg, Kriegsheere vor der Haustür oder irgendwelche Gegner und Übeltäter. Heute könnten wir von Corona-Viren, Klimaveränderung, Terroranschlägen und anderem reden. Seine Zuversicht überstrahlt alles: «Vor wem sollte ich mich fürchten? Der HERR ist meines Lebens Zuflucht! Vor wem sollte ich erschrecken» (V1)? Übersetzt: Gott ist mein so starkes Zuhause, dass mich nichts und niemand verunsichern und ängstigen kann!

Doch dann – im Vers 4 – tönt es ein wenig anders, wenn er bittet: «Ich wünsche mir über alles, in der Nähe Gottes zu wohnen und seine Freundlichkeit zu sehen.» Plötzlich ist dieses Zuhause nicht mehr selbstverständlich. Dafür muss er beten. Er bittet weiter, dass Gott sein lautes Rufen hört, ihm gnädig ist. Auch das ist nicht selbstverständlich. Er sucht Gottes Angesicht und bittet gleichzeitig, dass Gott sich vor ihm nicht verbirgt, ja ihn im Zorn nicht wegweisst, ihn nicht verlässt. Weshalb ist die Geborgenheit bei Gott so rasch verloren gegangen? Im Vers 13 kann er zweifelnd beten: «Hätte ich doch die Gewissheit, die Güte des Herrn zu schauen» und muss dann seiner Seele zusprechen: «Hoffe auf den Herrn. Sei stark, dein Herz sei unverzagt. Hoffe auf den Herrn.»

David spricht tief aus meiner Seele. Wie oft geht es mir genau gleich. Ich suche Jesus und weiss nicht, ob er mich hört, weiss nicht, ob er bei mir ist. Ich muss es glauben, will es annehmen! Aber ganz ehrlich: Ich kann dich, Jesus, mit all meinen Sinnen kaum wahrnehmen. Was ist das für eine einseitige Beziehung, die wir miteinander haben? Gerade in unserer beziehungs- und erfahrungsorientierten Welt ist das eine riesige Herausforderung, dich kaum erleben zu können und Glauben nicht viel mehr scheint, als Ahnen und Hoffen. Gott bleibt mir so unerfahrbar fern. Und scheint mir die Beziehung oft als einseitig von mir – im nicht Sehen und nicht Hören. Könnte es sein, dass aus dieser Sehnsucht heraus viele «Hören auf Gottes Stimme» Seminare boomen? Helfen uns der Lobpreis- und Anbetungszeiten, Gott zu fühlen? Versuchen wir kontemplativen Rückzugszeiten, Gott neu und anders zu erfahren?

Ich meine bei David zu spüren: Es geht ihm wie mir! Er schwankt durch Momente der klaren Zuversicht, sehnsüchtiger Gottessuche und enttäuschtem Zweifel.

In mein Tagebuch habe ich heute geschrieben: «Jesus, ich weihe mich heute Morgen dir. Du bist mein Herr und mein Gott. Dir will ich gehören und dir will ich dienen. Ich halte auch dann an dir fest, wenn ich den Eindruck habe, dass ich die Beziehung auf diese Weise manchmal fast nicht mehr aushalte. Du bist und bleibst mein Gott, den ich von Herzen liebe.»

Beat Ungricht

Beat Ungricht

Regionalleiter Zürich

Beat ist mit Bea verheiratet, die beiden haben drei Kinder und leben in Elsau, Winterthur. In der Region Zürich begleitet er 22 Gemeinden und brennt dafür, dass Jesus durch uns und unsere Gemeinde erlebbar wird. Er liebt es, zu vernetzen, beraten, nah und weit zu denken und mutig zu agieren.

Ihr werdet sein wie Gott

Ihr werdet sein wie Gott

Ihr werdet sein wie Gott

Credit: iStock.com/bpperry

Als Mensch so sein, wie Gott ist – ist das unsere tiefste Berufung oder die grösste Sünde oder irgendetwas dazwischen?

Im Osten taucht die Sonne die Wolken in sanftrotes Licht. Glitzernd tropft der Tau von den Fäden der Gerstenhalme. In gegenseitigem Echo trällern die Singvögel ihren Morgengruss. Paradiesisch. Schöpferische Schönheit. Göttliche Herrlichkeit. Unverdorben. Im Morgendunst werden drei unverhüllte Gestalten sichtbar. Die Menschin und der Mensch mit Gott im Gespräch. Die Beiden sind ihm gleich, unterschiedlich als Mann und Frau geschaffen. Zum einen ist alles auf Beziehung angelegt, zum anderen haben die Beiden einen klaren Auftrag. Sie verwalten, was Gott geschaffen hat. Sind seine Geliebten, Stellvertreter, Berufenen, Eingesetzten und Angestellten. Was immer damit für Aufgaben verbunden waren.

In dieser Szene befinden wir uns. Gemäss den beiden Schöpfungsberichten in 1. Mose 1 und 2 «schuf Gott den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie» (1,27) und «bildete Gott, der HERR, den Menschen aus dem Staub vom Erdboden und hauchte Atem des Lebens in seine Nase; so wurde der Mensch eine lebende Seele» (2,7). Der Mensch sagt später von sich selbst:

«Der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Atem des Allmächtigen belebt mich»

Hiob 33,4

Gott schaut sich selbst an und formt ein Wesen, so wie er ist –

«in seinem Bild … und es ward der Mensch zu einem Leben-Atmenden»

1. Mose 2,7; Hebräisch-Deutsche Bibel, Sinai-Verlag, Tel-Aviv

Das ist die Ausgangslage – einige tausend Jahre zurück.

Wir wechseln ins Jahr 2019. In diesem Sommer gestalte ich im paradiesischen Berner Oberland eine Stille Woche. An jedem Tag lese ich Römer 8. Neben anderen Erkenntnissen bleibe ich hier kleben:

«Schon vor aller Zeit hat Gott die Entscheidung getroffen, dass sie ihm gehören sollen. Darum hat er auch von Anfang an vorgesehen, dass ihr ganzes Wesen so umgestaltet wird, dass sie seinem Sohn gleich sind. Er ist das Bild, dem sie ähnlich werden sollen, denn er soll der Erstgeborene unter vielen Brüdern sein»

Römer 8,29, Neue Genfer Übersetzung

Wörtlich steht hier «dem Bilde seines Sohnes gleichgestaltet (oder gleichförmig) zu sein». Das ist unsere Berufung und Bestimmung als Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus: So sein, wie ER ist! Das ist in diesem Sommer keine neue Erkenntnis, aber etwas bewegt mich: «So sein, wie er ist» – das sind wir, seit Gott uns seinen Geist eingehaucht hat. Und weil jeder Mensch Gottes Geist (Lebensatem) in sich trägt, ist jeder Mensch Gott gleich. Aber weshalb haben wir denn diese Bestimmung und Berufung verloren und können sie nur in Jesus neu finden?

Wieder einige tausend Jahre zurück: Die Schlange flüstert dem Menschen ins Ohr: «Du wirst sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses»! – Aber was ist das für ein Blödsinn?! Der Mensch ist schon wie Gott, als sein Bild (hebr: bezaläm) und nach seiner Gestalt (hebr: demut) geschaffen. Was soll er mehr sein? Er gehört wesensmässig zu Gott, ist Teil von Gott.

Was jetzt geschieht, ist echte Kommunikationskunst. Die teuflische Stimme flüstert dem Menschen ein: Das ist zu wenig! Das reicht nicht! Du kannst mehr sein, als du bist! Du kannst sein, wie Gott ist! – und der Mensch glaubt das! Alles beginnt mit Glauben!

Nochmals: Das ist ja grad von Anfang an Gottes Idee: Wir sollen so sein, wie ER ist, nach seinem Bild und Wesen geschaffen, ein Teil von IHM, seiner Gemeinschaft, seines Umfeldes.

Und jetzt sät uns Satan eine neue Berufung in unser Herz: Was du jetzt bist, ist zu wenig, genügt nicht! Du verpasst das eigentliche Leben! Du kannst mehr sein! Du kannst mehr haben! Rebelliere! Sei mehr! Werde wie Gott! – Und der Mensch hört zwei Dinge:

  1. So wie Gott mich geschaffen hat, bin ich nichts wert!
  2. Sei dein eigener Gott! Sei selbst Gott! Mach, was du willst! Nutze alles zu deinen Gunsten aus. Suche Anerkennung, Beachtung und Anbetung.

Es ist nochmals das Jahr Null. Der Mensch hat sich neu als Gott geschaffen. Alles beginnt von vorne mit einem Wesen, welches sich als Menschgott versteht und sich alles um diesen Menschgott dreht. Das erste, was geschieht ist, dass der eine Bruder den anderen aus Neid umbringt. Bis heute im Jahr 2020 ist das so geblieben. Es dreht sich alles um mich, weil ich nicht genüge, zu wenig bin und meine Bedürfnisse selbst stillen muss.

Nochmals: Gott hat uns so geschaffen, wie er selbst ist und «alles, was er gemacht hatte, war sehr gut» (1. Mose 1,31). Durch unsere Entscheidung, der Lüge zu glauben, dass das zu wenig ist, bleiben wir in einer grausamen Spirale gefangen. Weil ich höre «ich bin nichts wert!» muss ich dauernd dafür sorgen, dass dem nicht so ist – dass andere mich beachten und ich selbst glänze. In dem ich mich selbst darstelle, hoffe ich, möglichst viel Beachtung, Aufmerksamkeit und Anbetung zu finden, schliesslich bin ich Gott, oder?

Mit dieser Auseinandersetzung ringt Paulus im Römerbrief. Er schildert, wie unsere menschliche Natur gegen Gott rebelliert. Paulus benutzt dafür den Ausdruck «Fleisch» und beschreibt den Kampf des Fleisches gegen Gottes Geist, in welchem der Mensch in sich selbst gefangen bleibt.

Doch in allem Leiden von Römer Kapitel 1 bis 7 wird in Römer 8 klar: Schluss damit! Die Lösung ist, dass Jesus uns gleich wird, damit wir ihm gleich werden können:

«Deshalb hat Gott als Antwort auf die Sünde seinen eigenen Sohn gesandt. Dieser war der sündigen Menschheit insofern gleich, als er ein Mensch von Fleisch und Blut war, und indem Gott an ihm das Urteil über die Sünde vollzog, vollzog er es an der menschlichen Natur» Römer 8,3

In Phil 3,10 benutzt Paulus den gleichen Begriff wie in Röm 8,29: «wir werden seinem Tod gleichgestaltet» und in Gal 2,19-20 wird klar, wie intensiv und herausfordernd dieses «gleich wie Jesus» ist. Das ist wirklich ein Herzenswort des Paulus:

«Ich bin mit Christus gekreuzigt. Nicht mehr ich bin es, der lebt, nein, Christus lebt in mir. Und solange ich noch dieses irdische Leben habe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mir seine Liebe erwiesen und sich selbst für mich hingegeben hat.»

So sein wie Gott ist, ist also unsere tiefste Bestimmung. Zu Beginn war uns diese Berufung geschenkt. Dadurch, dass wir uns von Gott lösten, haben wir sie verloren, sind wir bis heute verloren in uns selbst. Dadurch, dass dieser selbst berufene Menschgott mit Jesus am Kreuz stirbt, aufersteht ein Mensch, der wieder gleich ist wie Gott, aber Mensch bleiben darf – davon schreibt Paulus weiter in Römer 8. Der Heilige Geist vertritt uns vor Gott und übersetzt unsere «schwachen Gebete in unaussprechliche Seufzer» (8,26). Wir dürfen endlich Menschen sein, wie Gott es sich gedacht hat – auf dem Weg, im gleich zu werden.

Ich sehe den Apostel Johannes vor mir, wie er von der Wiederkunft von Jesus träumt:

«Wir wissen noch nicht, wie es sein wird… wir wissen aber, dass wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist!»

1Joh 3,1-3

Das ist Gottes Bestimmung für mein Leben! Sie war es von Anfang an. Sie es heute noch! Gott kommt mit mir zu seinem Ziel! Trotz und mit meinen Umwegen!

Beat Ungricht

Beat Ungricht

Regionalleiter Zürich

Beat ist mit Bea verheiratet, die beiden haben drei Kinder und leben in Elsau, Winterthur. In der Region Zürich begleitet er 22 Gemeinden und brennt dafür, dass Jesus durch uns und unsere Gemeinde erlebbar wird. Er liebt es, zu vernetzen, beraten, nah und weit zu denken und mutig zu agieren.